Mündener Gespräche / Fairconomy-Tagungen 2021-2023

65. Mündener Gespräche - 24./25. September 2021

Proudhon, Gesell, Keynes und negative Zinsen

Seit mehr als fünf Jahren halten die Zentralbanken Japans, Skandinaviens, der Schweiz und der Eurozone ihre Leitzinsen nahe bei null oder sogar unterhalb von null. Das galt als völlig undenkbar, bis der US-amerikanische Ökonom Prof. Gregory Mankiw bald nach dem Beginn der großen Weltfinanzkrise im Herbst 2008 in einer Kolumne in der „New York Times schrieb, dass die Ökonomen und die Allgemeinheit sich in Zukunft genauso an negative Zinsen gewöhnen müssten, wie sich Mathematiker einstmals an negative Zahlen gewöhnt hätten. Mankiw erinnerte damals sogar an den Sozialreformer Silvio Gesell, der schon vor mehr als 100 Jahren die Idee negativer Renditen gehabt hätte. Der weltberühmte Ökonom John Maynard Keynes habe diese Idee für gut befunden. Und „in der Situation von Banken, die übergroße Reserven halten, erscheint Gesells Sorge über die Haltung von Geld ganz plötzlich sehr modern.“

Das geldpolitische Handeln der Zentralbanken entspricht bislang jedoch noch nicht den Vorstellungen von Gesell. Das anstelle einer Einführung von „künstlichen Durchhaltekosten des Geldes“ von den Zentralbanken praktizierte sog. Quantitative Easing, also der massenhafte Ankauf von Staats- und Unternehmensanleihen, erreicht nicht die von ihnen angestrebte Wirkung einer Stabilisierung der Wirtschaft.

Zu Beginn der Tagung berichten Beate Bockting und Thomas Betz über die Ergebnisse ihrer Recherche im wissenschaftlichen Nachlass von John Maynard Keynes im King’s College in Cambridge/England. Vor und nach dem Erscheinen von Keynes‘ „Allgemeiner Theorie“ gab es interessante informelle Debatten über die Geldreform. Bei dieser Recherche kamen auch bemerkenswerte Details der legendären Völkerbund-Konferenz von Bretton Woods (1944) zum Vorschein, bei der sich Keynes leider nicht mit seinem „Bancor“-Plan zur Neuordnung der Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg durchsetzen konnte.

Inzwischen gibt es besonders im angelsächsischen Sprachraum eine wissenschaftliche Debatte über die Jahrzehnte lang in Vergessenheit geratenen geldreformerischen Ziele von Gesell und Keynes. Vor dem Hintergrund von Weltfinanzkrise und Negativzinsentwicklung unterzieht Prof. Günter Rehme die Geldreformgedanken von Gesell bei dieser Tagung einer erneuten wissenschaftlichen Überprüfung.

Außerdem werden zwei Doktoranden ihre wissenschaftlichen Forschungsprojekte vorstellen. Simon Papaud aus Paris bezieht den französischen Sozialreformer Pierre Joseph Proudhon mit ein, der ein bedeutender Vorläufer von Gesell und Keynes war. Und Christian Gelleri - bekannt als Initiator und Organisator des „Chiemgauer“-Regionalgeldes - stellt praktizierte Konzepte des Negativzinses vor und vergleicht die Theorie von Gesell und Keynes mit der heutigen Praxis. Welche Ergebnisse gibt es in kleinen monetären Experimenten wie dem „Chiemgauer“? Und wie wirksam sind niedrig dosierte Anwendungen bei Zentralbankwährungen?

Keynes‘ Sympathien für Gesells Geldreform -
Ergebnisse einer Recherche in Keynes‘ Nachlass in Cambridge/GB
Beate Bockting, Greven bei Münster, Redakteurin der Zeitschrift „Fairconomy“

Keynes‘ Bancor-Plan zur Neuordnung der Weltwirtschaft -
Eine Spurensuche im Keynes-Archiv in Cambridge/GB
Dipl.-Kfm. Thomas Betz, Berlin

On „rusting money” - Silvio Gesells Schwundgeld reconsidered
Prof. Dr. Günther Rehme, TU Darmstadt

Negativzins - Theorie, Praxis und Empirie
Dipl.-Handelslehrer Christian Gelleri, Traunstein/Chiemgau,
Doktorand bei Prof. Dr. Bofinger und Prof. Dr. Feichtner an der Uni Würzburg
im Forschungsprojekt „Demokratisierung von Geld und Kredit“

Proudhon'scher Sozialismus und monetäre Wirtschaftsanalyse:
von der Theorie zur Reform des Geldes
Simon Papaud, MA VWL und Wirtschaftssoziologie, Paris
Doktorand in Geschichte des ökonomischen Denkens an der
Université de Picardie/Université Lumière Lyon 2


Fairconomy-Herbsttagung 2022

66. Tagung | 7.- 9. Oktober 2022
Versäumnisse und Aufgaben der Geldpolitik in turbulenten Zeiten

   Die Welt taumelt von einer Krise in die nächste. Auf die Finanz- und Eurokrisen folgte die von Kriegen im Nahen und Mittleren Osten ausgelöste sog. Flüchtlingskrise. Dann hielt eine Pandemie die Welt in Atem und nun tobt mit unabsehbaren Folgen ein Krieg in der Ukraine. Jedes Mal werden die Erschütterungen des Weltgefüges mit hohen Milliardenkrediten aufgefangen. Hinzu kommt der Anstieg der Inflation auf Jahrzehnte lang nicht mehr erlebte 8 %. Und über allem schwebt wie ein Damoklesschwert die Ressourcen- und Klimakrise.

   Zu diesem Durcheinander trägt das ungerechte Geldsystem maßgeblich bei und seine Reform wäre dringend notwendig, um die Welt wieder zur Ruhe kommen zu lassen. Die von einigen großen Zentralbanken während der letzten Jahre praktizierte Negativzinspolitik hätte Chancen für eine grundlegende Reform des Geldsystems eröffnen können. Jedoch wurde es versäumt, das Bargeld mit einer Liquiditätsgebühr zu belegen und damit die störungsfreie Zirkulation einer sinnvoll dosierten Geldmenge zu verstetigen. Stattdessen wurde die von vielerlei Störfaktoren beeinflusste Geldmenge auch noch durch das Quantitative Easing unnötig aufgebläht.

   Unter dem Eindruck der hohen Inflation griff die US-Notenbank Fed zu einer rückwärtsgewandten Dinosaurier-Strategie und hob die Zinsen in diesem Jahr bereits zum vierten Mal wieder an. Das erschwert jedoch die Finanzierungsbedingungen für viele Unternehmen, Staaten und Private, was die ohnehin schwächelnde Konjunktur zusätzlich bremst. Trotzdem greift nun auch die Europäische Zentralbank in die Klamottenkiste überholter ökonomischer Doktrinen und weiß offenbar keine bessere Antwort auf die Inflation als eine Zinserhöhung. Weitere „Leitzinsnormalisierungen“ will sie folgen lassen. Gerade erst begannen die Negativzinsen, sich in der Breite auf die überbordende Liquidität bei den Banken auszuwirken – da verabschiedet sich die EZB von der Negativzinspolitik. Ein Fehler, den sie baldmöglichst korrigieren sollte. Ihr Versuch, mit Zinsanhebungen ihr eigentliches Inflationsziel von zwei Prozent auf mittlere Sicht wieder erreichen zu wollen, ist der falsche Weg.

   Bei dieser Tagung sollen sowohl die Versäumnisse der Zentralbanken als auch Ansätze einer die Wirtschaft verlässlich stabilisierenden Geldpolitik zur Sprache kommen.

Kryptowährungen als Zahlungsmittel und Anlageobjekt
Dr. Max Danzmann, Berlin
                  
Geldangebot, Geldnachfrage und der Zins in Silvio Gesells Geldtheorie
Dipl.-Volkswirt Matthias Klimpel, Frankfurt/M.

Inflation und Geldpolitik im Euroraum – eine kritische Analyse
Prof. Dr. Johann Walter, Westfälische Hochschule Gelsenkirchen

Das Inflation/Deflation-Paradoxon
Prof. Dr. Felix Fuders, Coordinator Right Livelihood Campus Austral,
Universidad de Valdivia / Chile (Zuschaltung per Zoom)

Klassifizierung von Geldsystemen – Methodologische Überlegungen
und pluralökonomisches Modellierungspotenzial bezüglich der
Geldfunktionen und der Geldsteuerung
Dr. Christoph Freydorf, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der
Cusanus-Hochschule für Gesellschaftsgestaltung im
Forschungsprojekt Finanzwende für Resilienz und Nachhaltigkeit


Fairconomy-Herbsttagung 2023

67. Tagung / 27. – 29. Oktober 2023

In gesellschaftskritischen Debatten stand lange Zeit das Verhältnis zwischen (Lohn-)Arbeit und (Real-)Kapital im Vordergrund. Allmählich kam die Einsicht hinzu, dass auch das Geldkapital bei der Zerklüftung der Gesellschaft in reiche, mittlere und arme Schichten eine große Bedeutung hat. Aus dem Blickfeld ist dabei allzu lange die Rolle geraten, die der Produktionsfaktor Boden bei alledem spielt. In den Jahren seit der großen Finanzkrise ist der Boden zu einer geradezu gigantischen „Umverteilungsmaschine“ (Dirk Löhr) geworden. Sie verdient eine sehr viel stärkere Beachtung als bisher. Damit soll freilich nicht gesagt sein, dass das Verhältnis zwischen (Lohn-)Arbeit und Geld-/Realkapital sowie Geldreformüberlegungen heute nicht mehr von Belang seien. Im Gegenteil – eine Reform der Geldordnung bleibt zusätzlich zu einer Reform der Boden- und Ressourcenordnung auch weiterhin notwendig, um eine nicht mehr wachsende, sondern stagnierende oder gar schrumpfende Wirtschaft stabilisieren zu können und um das in großen Kapitalgesellschaften konzentrierte Kapital in viele mittlere Genossenschaften und kleinere Unternehmen dezentralisieren zu können. Das könnte positive Auswirkungen auf Investition und Finanzierung haben und auch der Ökonomisierung vieler Lebensbereiche entgegenwirken. Und nicht zuletzt bedarf es einer Reform der Weltwährungsordnung im Sinne von Keynes‘ Bancor-Plan, um die Weltwirtschaft in eine neue Balance zu bringen.

Gedenken an Beate Bockting
Rundgespräch

Erinnerung an den 100. Geburtstag von Helmut Creutz
am 8.7.1023 anhand einer Filmvorführung

Der Boden – eine gigantische Umverteilungsmaschinerie
Prof. Dr. Dirk Löhr, Hochschule Trier, Umwelt-Campus Trier-Birkenfeld

Investitionshemmnis Investitionstheorie – Eine Kritik am Dean-Modell
Dipl.-Volkswirt Ass.jur. Jörg Gude, Oberwesel/Rhein

Vollgenossenschaften mit integrierter Währung als Trans- formationsansatz für den sozial-ökonomischen Wandel
Dr. Jens Martignoni, Wald bei Zürich/Schweiz, Dozent für Organisationsmanagement im Zentrum für Unternehmensentwicklung der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften und Redakteur des „International Journal of Complementary Currencies“

(Kritik der) Ökonomisierung der Gesellschaft – Eine freiwirtschaftliche Perspektive
Tilo König, Mag. Soz. Bremen

Paradigmenwechsel - Rezepte für die sozial-ökologische Transformation
Toni Andress, Dipl.-Wirtschaftsjurist, Berlin